September im Jahre 2023 (MMXXIII). In der ganzen Essener Verwaltung sind Verwaltungsdienststellen für Bürger geöffnet und persönlich erreichbar. In der ganzen? Nein, großer städtischer Fachbereich hört nicht auf dem Servicegedanken und seiner Aufgabenerfüllung Widerstand zu leisten…
Gemeint ist der Fachbereich 56 der Stadtverwaltung, besser bekannt als das JobCenter. Dieses hat im März 2020 pandemiebedingt seine Pforten für den Publikumsverkehr ohne Termin geschlossen, ebenso wie auch praktisch der Rest der Verwaltung. Nachvollziehbar, damals, aus Gründen des Gesundheitsschutzes.
Mittlerweile ist fast alles wieder geöffnet, ist doch die Pandemie wenn nicht vorbei so jedenfalls deutlichst abgeflaut. Logisch, dass man da wie das Bürgeramt, die KfZ-Zulassungsstelle und zig andere Ämter wieder für das Publikum öffnet. Nur offenbar nicht logisch für das JobCenter.
Dort ist man zu der glorreichen Erkenntnis gelangt, dass ohne unangemeldeten Publikumsverkehr die Verwaltungsabläufe besser funktionieren sollen, es insbesondere die Empfänge der JobCenter Standorte nicht brauche. Ohne diese sei der Service für Leistungsberechtigte sogar verbessert. Daher sollen die Empfänge dauerhaft geschlossen bleiben und sind es – jedenfalls bis heute – auch.
An dieser Entscheidung will der Fachbereich trotz deutlicher Kritik aus den Wohlfahrtsverbänden, der Beratungslandschaft und sogar trotz eines mittlerweile erledigten Antrags zur Öffnung der Empfänge im Sozialausschuss unbedingt festhalten. Nicht durch Kunden gestört zu werden scheint bequem zu sein. Nur handelt es sich beim JobCenter nicht um einen Baumarkt, sondern um die Stelle, die die Bereitstellung des Existenzminimums – grundgesetzlich garantiert – sicher zu stellen hat. So geht es also nicht.
Warum geht es nicht und was ist so unsäglich falsch dran? Rein praktisch recht einfach erklärt: Die Möglichkeit der persönlichen Vorsprache am Empfang ist für viele Menschen wichtig. Sei es um Dokumente, die sie zum wiederholten Male einreichen und die immer wieder verschwinden quittiert zu bekommen. Sei es um ggf. einen direkten Notfalltermin bei Ihrem Sachbearbeiter zu bekommen. Sei es weil Zuschriften unklar oder erklärungsbedürftig waren – unabhängig davon ob der Brief des JobCenters objektiv unverständlich war – kommt vor – oder weil aufgrund mangelnder Kenntnisse oder Behördenerfahrung, sprachlicher Probleme der Betroffene eine Hilfestellung benötigt.
Ohne eine spontane persönliche Vorsprachemöglichkeit fallen die “Schwächsten” hinten über. Das darf in einem Staat, der sich selbst Sozialstaat nennt, nicht sein. Damit sind wir bei der Überleitung ins Gesetz:
Nachdem bereits gezeigt wurde, dass die Schließung der Empfänge praktisch nicht sachdienlich – vulgo: Unsinn – ist, lässt sich auch leicht zeigen, dass sie sogar rechtswidrig sein dürfte. Ein Auszug aus dem Gesetz:
“Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) – Allgemeiner Teil – (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015
§ 1 Aufgaben des Sozialgesetzbuchs
(1) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen,
ein menschenwürdiges Dasein zu sichern,
gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen,
die Familie zu schützen und zu fördern,
den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und
besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.
(2) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll auch dazu beitragen, daß die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.
Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) – Allgemeiner Teil – (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015)
§ 9 Sozialhilfe
Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken.”
Zusammengefasst § 1 Abs. 2 i.V.m. § 9 SGB I: Leistungsberechtigte haben ein Recht auf persönliche Hilfe und die sozialen Dienste und Einrichtungen dafür haben per Gesetz rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.
Da es Leistungsberechtigte gibt, für die persönliche Vorsprachemöglichkeiten notwendig sind, hat “der Staat” – hier der Fachbereich 56 – JobCenter Essen diese auch zur Verfügung zu stellen. Basta – möchte man meinen.
Nicht so die Stadt Essen: Auf den Antrag im Sozialausschuss reagierte das JobCenter mit der Vorlage einer im wahrsten Sinne des Wortes “bemerkenswerten” Powerpoint Präsentation, die belegen soll, warum es die Empfänge nicht braucht. Sie steht als Material öffentlich einsehbar im Ratsinformationssystem (RIS) der Stadt Essen und ist unter folgendem Link zu finden:
Fachbeirat des JobCenters Essen 06.03.2023
Die Präsentation ist zu lang um sie hier nun im Einzelnen durchzugehen, das mag der geneigte Leser selber tun. Ich weise hier nur auf die “Highlights” in dem fachlich und sachlich extrem schlecht gemachten Rechtfertigungsversuch der Verwaltung für die Verweigerung einer existenznotwendigen Dienstleistung hin:
Seite 6, oben: “Entgeltgruppe 6, mittlerer Dienst”
– Die Stadt entscheidet doch selbst, welche Mitarbeiter mit welcher Entscheidungskompetenz sie dort hinsetzt.
Seite 7-9 zusammengefasst: “Wir haben eine notwendige Aufgabe schlecht erledigt. Daraus schließen wir, dass wir sie jetzt garnicht mehr erledigen.” Besonders schön: “• 150 – 360 Kund*innenvorsprachen pro Tag/Standort (+ Telefon + Sprachmittler + Kinder + Familie + Kinderwagen,….)” – Ich frage mich ernstlich, welches zeitaufwendige Anliegen die Kinderwagen wohl hatten.
Seite 21: Weil der Gesetzgeber Behörden verpflichtet einen weiteren Zugangsweg zu schaffen (Online) kann das wohl kaum die Rechtfertigung sein einen anderen abzuschaffen.
etc., etc. man lese selbst.
Im Ergebnis bleibt nur zu sagen:
Es braucht geöffnete Empfänge. Der Rechtfertigungsversuch des JobCenters diese nicht zu öffnen ist gescheitert, weil die Schließung auch objektiv nicht zu rechtfertigen ist, weder rechtlich noch sachlich.
“Bessere” interne Verwaltungsabläufe sind jedenfalls dann kein Argument, wenn sie dazu führen das eben diese Verwaltung ihrer Kernaufgabe nicht mehr nachkommt, Betroffene nicht mehr da abholt wo sie stehen.
Last but not least: Andere Verwaltungseinheiten sind geöffnet. Leistungsberechtigte sind keine Bürger zweiter Klasse. Falls das dem JobCenter nicht klar sein sollte, wäre es traurig. Falls Klarheit besteht müssen die Empfänge umgehend wieder geöffnet werden!
Lang ist der Beitrag geworden, sorry, aber das Thema ist wichtig.
Carsten Dams
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Sozialrecht